Sonntag, 26. Februar 2017

Privatschulen



ULRICH LANGE
25.12.2016 | 18:57 46

Späte Erkenntnis

Privatschulen | Privatschulgesetze und Aufsichtspraxis der meisten Bundesländer missachten laut einer Studie des WZB nachweislich das Grundgesetz. Und daran wird sich wohl auch nichts ändern.


"Das missachtete Verfassungsgebot – Wie das Sonderungsverbot nach Art. 7 IV 3 GG unterlaufen wird", lautete der Titel einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), veröffentlicht in Heft 22/2016 der "Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht". Was die Autoren, der Rechtswissenschaftler Professor Michael Wrase und der Bildungssoziologe Prof. Marcel Helbig, dort erstmals systematisch belegen, hat durchaus gesell- schafts- und bildungspolitische Brisanz. Es geht um nichts Geringeres als um den (notorisch saloppen) Umgang der Herrschenden mit den Grundprinzipien unserer Verfassung. Und es geht um die verfassungswidrige Duldung der Selbstausgrenzung der Gutverdienenden mittels eines sozial und preislich exklusiven (überwiegend privaten) Standesschulsystems, durch das die ohnehin zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und (Einfluss-)Reich noch weiter forciert wird.

Altbekanntes Ärgernis

Die durch die Berliner Wissenschaftler hier erstmals so detailreich dokumentierte Erkenntnis, dass sich parallel zu dem öffentlichen Schulwesen ein zweiter - größtenteils ebenfalls staatlich und damit steuerfinanzierter - Bildungssektor für die Kinder der Bessergestellten auszubreiten beginnt, in dem sich nicht nur "elitäre" Internatsschulen wie Salem & Co., sondern zunehmend auch private Tagesschulen durch Erhebung saftiger Elternbeiträge ungeniert über das Sonderungsverbot des Verfassungsartikels 7 (4) GG hinwegsetzen, während Politiker und Kultusbürokraten dieser Entwicklung tatenlos zusehen, ist allerdings nicht wirklich neu, mögen auch einige aufgeregte Pressemeldungen diesen Anschein erwecken. "Würde man das Grundgesetz ernst nehmen", verkündete da zum Beispiel die Süddeutsche vom 17. November 2016 mit jakobinischer Strenge, "müsste Schloss Salem geschlossen werden!". Der Berliner Tagesspiegel (Titel: „Bei Privatschulen ist soziale Selektion Programm“) und der Deutschland-funk („Elite-Internate dürfte es in Deutschland eigentlich nicht geben“ / “Mehrzahl der Bundesländer hat das Sonderungs-verbot nicht umgesetzt!“) gaben sich ähnlich kämpferisch.

Doch gemach. Von einem allgemeinen "Sturm auf Salem & Co." gemäß der Revolutions-parole »Guerre aux palais! Paix aux chaumières!«, wie "PISA-Versteher" Christian Füller ihn bereits auf die private Bildungswirtschaft zurollen sieht, kann angesichts einer eher gelangweilten Reaktion der Medienbranche insgesamt kaum die Rede sein. Dies wäre auch höchst verwunderlich gewesen, wird doch die besser verdienende Leser- und Elternschaft um diese Jahreszeit gewöhnlich mittels anzeigengespickter Sonderhefte, Sonderbeilagen oder Sonderthemen, so genannter „Verlags- und Redaktions- speziale“, quer durch den deutschen Blätterwald zum Exodus in eben jene preislich wie sozial exklusiven Privatschulen und Internate geradezu angestiftet, deren Existenzberechtigung nun gerade mal von einer Handvoll getriggerter Medienschaffender (und auch nur rein rhetorisch) in Frage gestellt wurde. "Boom der Privatschulen" lauten da gewöhnlich die Aufmacher. Oder: "Kaderschmieden mit Karrieregarantie!". Neuerdings aber auch schon mal: "Kaderschmiede für Reiche? - Internate haben ein Imageproblem." Oder: "Wo seid ihr, Schüler? Untertitel: "Schlechte Presse, weniger Anmeldungen: Viele Internate und Privatschulen haben eine schwere Zeit. Mit neuen Angeboten wollen sie nun die Trendwende schaffen."

Erst recht ignoriert wurde das Thema seitens der Politik - mit Ausnahme vielleicht Berlins, wo man sich gerade zu einem rot-rot-grünen Bündnis formiert hat. Dabei ist doch der um Wiedergewinnung ihres sozialen Profils ringenden Sozialdemokratie in Vorwahlkampfzeiten jede Gelegenheit recht, sich den Auswüchsen sozialer Ungerechtigkeit entgegen zu stemmen, insbe-sondere natürlich denjenigen, die sie selbst maßgeblich mitverursacht hat. Es ist absehbar, dass man auch die neu entfachte Diskussion um verfassungswidrige Privatschulgebühren wieder gleichmütig aussitzen wird. Die Empörungsbereitschaft der stets Empörungsbereiten wird sich schon beim nächsten sozialdemokratischen Stinkefinger oder Terror-Attentat auf einen Weih-nachtsmarkt auf andere Konfliktfelder ablenken lassen. Irgendwas passiert ja immer.

Bei systematischer Betrachtung stellt man schnell fest, dass das Problem einer verfassungswidrigen Sonderung der SchülerInnen nichtstaatlicher Schulen nach den elterlichen Einkommens- verhältnissen auf politische Sünden, Versäumnisse und Webfehler zurückgeht, die mindestens so alt sind wie die Bundesrepublik selbst.

Als die Mütter und Väter der Verfassung vom 8. Mai 1949 den Grundgesetzartikel 7 Abs. 4 formulierten, wollten sie „das Kastensystem [...] zerbrechen", das laut Bericht einer amerikanischen Expertenkommission aus dem Jahr 1946 "das deutsche Schulsystem" durchzog. Denn dieses wurde beschuldigt, "den Nationalsozialismus begünstigt, wenn nicht [sogar] gefördert" zu haben und damit zugleich als „wesentliches Hindernis der gesellschaftlichen Modernisierung und politischen Demokratisierung" nach 1945 zu wirken (P. Drewek).

Dass es mit den Lehren aus der Vergangenheit schon damals nichts wurde und die alten Eliten auch ihre Standesschulen in der Adenauer-Ära mit staatlicher Billigung erneut etablieren konnten, ist – zumindest teilweise - aus den Zeitumständen zu erklären. Das besiegte und zerstörte Deutschland hatte zunächst alle Hände voll zu tun, die Alltagsnöte der Bevölkerung zu lindern und überhaupt wieder ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen.

Die pragmatisch-zynische Schmutzwasser-Philosophie des "Alten aus Rhöndorf" beherrschte das politische Handeln noch bis in die 1960er und 70er Jahre. Infolge der Wirren der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus standen die Zeichen auf Wiederherstellung der alten Ordnung, was durchaus auch gesellschaftspolitisch zu verstehen war und zu einem insgesamt restaurativen Klima führte. Von einer systematischen Verfolgung der NS-Verbrechen konnte unter diesen Bedingungen ebenso wenig die Rede sein wie von einer Durchdringung der Gesellschaft des neuen Staates mit demokratischem Geist. Die politischen Akteure – ehemalige Nazis wie Nazi-Opfer, Linke wie Rechte, Katholiken wie Protestanten – standen sich misstrauisch und unversöhnlich gegenüber wie schon in der Endphase der Weimarer Republik.

Die Wiederherstellung eines Standesschulwesens der Oberschicht erfolgte als Teil jenes Transformationsprozesses, der den vielfach schwer belasteten Repräsentanten der alten Eliten nach glimpflicher Entnazifizierung die Wiedereingliederung in die Karrieresysteme des Adenauerstaates ermöglichte. In der allgemeinen staatlichen Unordnung war es ein Leichtes, mit Hilfe alter Beziehungsnetzwerke wirksame Lobbyarbeit zu betreiben. Aus der erfolgreichen Integration der alten Eliten entwickelte sich in den Folgejahren dann eine Gesellschaftsordnung, die heute gern mit Bezeichnungen wie „Klüngel-Republik“ oder „Deutschland-Clan“ charak-terisiert wird und deren politische Kultur mittlerweile die Form einer weitgehenden Korrumpierung des Staates durch die Einflüsse des Lobbyismus angenommen hat.

Von daher ist es nicht erstaunlich, in welchem Umfang insbesondere die Gruppe der "Deutschen Landerziehungsheime" als Interessenvertretung der teuersten privaten Internatsschulen durch ihren schillernden Justiziar Hellmut Becker (Altsalemer, NSDAP-Mitglied seit 1937 und Anhänger des Dichters Stefan George, der ein strikt antiliberales und antidemokratisches bildungsbürgerliches Eliteideal propagierte) bereits in der Frühphase staatlicher Neuorganisation nach 1945 Einfluss auf die Privatschulgesetzgebung der Länder nehmen konnten. Und diese Einflussnahme setzt sich, wie wir noch sehen werden, bis in unsere Tage fort.

Und eben deshalb kann man auch nicht erwarten, dass die aktuelle BSW-Studie eine breite Grundsatzdiskussion über Versäumnisse staatlicher Genehmigungs- und Aufsichtspraxis im Hinblick auf das Sonderungsverbot auslösen wird. Schon in der jüngeren Vergangenheit blieb deren Anprangerung durch einschlägige Publikationen oder parlamentarische Anfragen wirkungslos bzw. ließ man diese nach dem fernöstlichen Sinnbild der drei Affen schlicht ins Leere laufen. Da mochten selbst höchste Gerichte beschließen, was sie wollten: Den politisch Verantwortlichen war kein Gegengrund zu fadenscheinig, um den Vorwurf der staatlichen Subventionierung verfassungsfeindlicher Umtriebe der privaten Bildungs-wirtschaft abzuwehren. So antwortete beispielsweise der Hamburger Senat auf eine große Anfrage der Linken vom 05.09.2008:

FRAGE
Wie viele Freiplätze für wirtschaftlich bedürftige Schülerinnen und Schüler werden an den Ersatzschulen, die ein Schulgeld von über 200 Euro erheben, bereit gehalten (bitte Angaben in Prozent) und wie wird gesichert, das Antragsteller auf Freiplätze ihre legitimen Ansprüche auch geltend machen können?
ANTWORT
Bei Erteilung der Genehmigung waren nach damaliger Sachlage und Rechtsansicht der zuständigen Behörde die Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt. Die zuständige Behörde bereitet zurzeit eine weitere Erhebung vor, die für das laufende Schuljahr unter anderem die Höhe des maximalen Schulgeldes, Ermäßigungstatbestände und die Anzahl der Freiplätze feststellen soll.
Gleichzeitig werden die Schulträger aufgefordert, das Sonderungsverbot einzuhalten. Im Übrigen sind die Überlegungen der zuständigen Behörde noch nicht abgeschlossen.
Ein Jahr später wurde eine Anfrage der SPD im Baden-Württem- bergischen Landtag in gleicher Sache seitens des Kultusministeriums (vgl. Schreiben vom 29. Juli 2009 Nr. 24–6460.0/116) ähnlich hinhaltend beschieden:
"Das von Ersatzschulen in Baden-Württemberg konkret erhobene Schulgeld wird statistisch nicht erfasst. Nach Kenntnis des Ministeriums erheben Ersatzschulen in Baden-Württemberg grundsätzlich Schulgeld in einer Höhe, das nach Einkommensverhältnissen der Eltern gestaffelt ist und vergeben auch Stipendien für Schülerinnen und Schüler insbesondere aus einkommensschwächeren Familien. Auch für Geschwister werden Ermäßigungen gewährt.
Das Sonderungsverbot bezieht sich im Übrigen lediglich auf das Schulgeld, das von den Eltern originär für den Unterricht an der Ersatzschule geleistet wird. Soweit die Schule darüber hinaus Leistungen anbietet, wie z.B. Betreuungsangebote oder Mittagessen, kann die Schule hierfür ein zusätzliches Entgelt erheben. Hierfür geleistete Entgelte der Eltern werden nicht vom Sonderungsverbot erfasst."

Das Beispiel belegt anschaulich, dass den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung kein Argument zu schwach ist, um einen Zustand zu rechtfertigen, dessen sozialschädliche Auswirkungen zwar in der Sache kaum zu bestreiten sind, dem man aber dennoch auf keinen Fall abzuhelfen gedenkt.

Erstaunlicherweise werden hier gerade die preislichexklusivsten und damit sozial selektivsten Privatschulen - bei Salem & Co. liegen die monatlichen Elternbeiträge weit über dem Nettoeinkommen eines Otto Durchschnittsverdieners - mit Scheinargumenten und durch-sichtiger rhetorischer Spitzfindigkeit gegen die Infragestellung ihrer Verfassungsmäßigkeit verteidigt. Diese sind indes leicht zu widerlegen. So handelt es sich bei der Schule Schloss Salem und anderen ähnlich hochpreisigen Instituten um sog. Heimschulen, die weit überwiegend von internen Schülern (Internatsschülern) besucht werden. Anders als bei den externen (zu Hause wohnenden) Schülern, die in Heimschulen nur einen äußerst geringen Prozentsatz ausmachen, ist hier der Unterrichtsbesuch überwiegend davon abhängig, dass das teure Gesamtpaket inklusive Mahlzeiten und sämtlicher Betreuungsangebote einer "Wohnschule" gebucht wird. "Schulgeld" und Internatskosten als angeblich vom Sonderungsverbot nicht erfasste Zusatzleistungen lassen sich also gar nicht trennen. Und selbst wenn dies so wäre, lägen die reinen "Unterrichtsgebühren" bereits erheblich über dem, was laut BVerfG gemessen an Art. 7 GG noch als unschädlich anzusehen wäre (vgl. BVerfG-Urteil vom 08.04.1987). So werden einem externen Tagesschüler in Salem laut aktueller Preisliste derzeit 1.4430 bis 1.550 Euro monatlich (zuzüglich einmaligem "Sicherheitsvorschuss" zwischen 2.860 und 4.650 Euro) berechnet, was allerdings wiederum Zusatzleistungen (Betreuung am Nachmittag i.S. einer Ganztagsschule) einschließt.

Gleichheit als Grundnorm demokratischer Politik hat ausgedient

Die private Bildungswirtschaft hat nach wie vor sowohl unter Bildungspolitikern als auch in der Wissenschaft und in den Zeitungsverlagen und Sendeanstalten deutlich mehr Fürsprecher als Kritiker. Dies belegen u.a. die recht übersichtlichen Reaktionen auf die spontanen Aufregermeldungen in Süddeutscher, Tagesspiegel und Deutschlandfunk, die Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz/Remagen in seinem Blog "Aktuelle Sozialpolitik" gesammelt und kommentiert hat.

"Was für eine Überschrift!" spottet er über den Aufmacher der Süddeutschen und positioniert sich gleich mit einer relativierenden Fragestellung, die sich über den Grundsatz einzuhaltender verfassungsrechtlicher Vorgaben und umzusetzender höchstrichterlicher Urteile erstaunlich leichtfertig hinwegsetzt:
>> Und auch wenn man es mal den reichen Eltern von Salem & Co. zeigen wollte und alle Privatschulen schließen würde - ändern sich dann die Verhältnisse in den öffentlichen Schulen? Werden die ausgeschlossenen Kinder in Folge besser betreut und gebildet? <<
Bemerkenswert ist auch die in der Frage bereits selbstverständlich enthaltene Prämisse, dass die Verhältnisse an privaten Schulen grundsätzlich besser seien als an öffentlichen. Doch dies entspricht weder dem objektiven Erkenntnisstand der Wissenschaft noch den subjektiven Erfahrungen von Eltern und Schülern. Und entgegen der scheinplausiblen Annahme, dass sich durch die Schließung von Salem und Co. an der Qualität des öffentlichen Bildungssystems nichts ändern würde, lohnte vielleicht einmal die grundsätzliche Überlegung, warum man es den Bessergestellten als den Profiteuren der neoliberalen Austeritätspolitik erlauben sollte, sich aus dem aufgrund von Steuerge-schenken an die Reichen ausgetrockneten staatlichen Schulsystem zum Schaden der Demokratie in die sozial exklusive Idylle der nach rein pädagogischen Maßstäben gar nicht leistungsfähigeren oder sonstwie hochwertigeren Privatschule zu verdrücken, deren Lobbyisten obendrein noch die - keinesfalls durchgängig geteilte - Auffassung verbreiten, staatlicherseits systematisch benachteiligt zu werden und nur aus diesem Grund überhaupt gegen das Sonderungsverbot des Art. 7 GG verstoßen zu müssen.

Ungleichheit ist wieder gesellschaftsfähig geworden. Sie wird uns von der entmächtigten Politik und der ermächtigten Wirtschaft als unvermeidliche Folge der neoliberalen Globalisierung verkauft. Zwar gilt soziale Ungleichheit allgemein als ungerecht. Und soziale Gerechtigkeit stellt in den Augen der Mehrheit immer noch die Richtschnur demokratischer Politik dar. Allerdings: Einschneidende Maßnahmen zur Wiederherstellung gerechterer sozialer Verhältnisse sind in der mehrheitsbildenden Mitte der Gesellschaft unpopulär. So sehen zwar 68 Prozent der Teilnehmer einer Allensbacher Umfrage aus dem Jahr 2016 in der Tatsache, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich ständig zunehmen, das größte Risiko für die weitere Entwicklung Deutschlands in den kommenden zehn Jahren. Gleichzeitig aber haben sie kein Problem mit Ungleichheit, sofern diese (vermeintlicher) Ausdruck unterschiedlicher Leistungsfähigkeit ist. Das "Versagen des Sozialstaats" beklagen daher nur wenige. Und das ist gut für die "Parteien der Mitte", von denen niemand weiß, ob sie jeweils die Interessen der oberen, mittleren oder unteren Mitte vertreten. Sie können es hinsichtlich Gleichheit und Gerechtigkeit bei hohlen Lippenbekenntnissen belassen und die Interessen des unteren Bevölkerungsdrittels ungestraft ignorieren. Dessen Zersplitterung, Entsolidarisierung und geringe Wahlbeteiligung sorgen dafür, dass lediglich die Wünsche der Oberschicht und oberen Mittelschicht zielgerichtet in praktische Politik umgesetzt werden.

Die Mittelschicht pfeift traditionell auf die Solidarität mit dem Prekariat der Abgehängten. Selbst ihre abstiegsbedrohten Teile orientieren sich von je her nach "oben". Kein Wunder, dass sie den Werbern für teure Internate auf den Leim gehen, die glänzende Karriere-aussichten für den Nachwuchs, ja dessen Aufstieg in die Elite, versprechen.

Dass "die Eliten mauern", wie es ein ernüchterndes Fazit solcher Aufstiegsversprechungen in den "Deutschen Wirtschaftsnachrichten" auf den Punkt bringt, will man in Mittelschichtkreisen, deren Stimmungslage der Kasseler Soziologe Prof. Heinz Bude in einem Extra zum Funkkolleg Sicherheit des Hessischen Rundfunks höchst anschaulich beschreibt, natürlich nicht wahrhaben. Darum lassen sie sich hervorragend missbrauchen, um - "Hurra wir dürfen zahlen!" - die Eliteschulen der Oberklasse mitzufinanzieren und sie mit ebenso ehrgeizigen wie wohlerzogenen Stipendiaten zu versorgen, die nicht mit den Schmuddelkindern auf öffentliche Schulen gehen sollen, dann aber die privaten Institute für "die armen Kinder der Reichen" nach innen leichter regierbar und nach außen attraktiver erscheinen lassen. Der Mitbegründer der -schule Schloss Salem, Kurt Hahn, schrieb bereits wenige Jahre nach deren Eröffnung desillusioniert:
"Keine Schule kann eine Tradition von Selbstdisziplin und tatkräftiger, freudiger Anstrengung aufbauen, wenn nicht mindestens 30 Prozent der Kinder aus Elternhäusern kommen, in denen das Leben nicht nur einfach, sondern sogar hart ist."
Die Botschaft "Wie aus Kindern Führungskräfte werden" (Salem-Werbung) ist dann allerdings wohl eher für diejenigen Kunden gedacht, deren Nachwuchs via Nobel-wohnschule doch noch die Kurve zum Unternehmensnachfolger kriegen soll. Und bei den "Verbindungen fürs Leben" (Geschichte über die gelungene Integration eines Salemer Oligarchen-Sprösslings in eine alteingesessene mittelständische baden-württembergische Firma aufgrund einer Schulfreund-schaft mit dem Firmenerben im Internat Salem) bleiben die Reichen ohnehin am liebsten unter sich. Das gilt schon für die Wohnquartiere, die Schulen, den Umgang und erst recht, wenn's um den Bund fürs Leben geht.

Und mit der zunehmenden Entfremdung der sozialen Schichten nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn die faktisch gegebene und sich ständig vertiefende soziale Ungleichheit schlägt sich in einer schleichenden Destabilisierung von Staat und Gesellschaft nieder - und das weltweit. Untrügliche Anzeichen werden als solche oft nicht wahrgenommen. Stattdessen entrüstet man sich naiv bis scheinheilig über Kriege, Terror, Flüchtlingsströme, Brexit oder den grassierenden Rechts-populismus. Aber die Entwicklung zum "Failed State"beginnt eben früher als viele es wahrhaben wollen, nämlich mit dem Zerbrechen des inneren Zusammenhalts und der gemeinsamen Wertordnung von Gesellschaften. Die wachsende Kluft zwischen den sozialen Schichten ist ein Menetekel heraufziehender Krisen auch in unserem Teil der Welt.

Das politische Establishment hat dem Erosionsprozess der Demokratie nichts entgegen zu setzen - außer dem Bemühen, das Volk nicht durch unangenehme Wahrheiten zu beunruhigen. Und was sind schon Wahrheiten, wenn deren Wahrnehmung zusehends im Nebel konstruktivistischer Realitätsverleugnung und postfaktischer Manipulation ver-schwimmt und Tatsachen mit Gefühlen und Spekulationen willkürlich vermischt werden dürfen. Unwahrheiten sind nicht mehr falsch, intellektuell unredlich oder einfach nur Ausdruck von Blödigkeit, sondern stellen „eine alternative Sichtweise“ dar, die eine eigene Realität bildet.

Die unterwürfige Selbstzensur, die der SPD-Ministerin Andrea Nales im jüngst vor-gelegten Entwurf zum 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nachgewiesen wurde, dient der Verschleierung der Ochlokratisierung der Gesellschaft im postdemokratischen Zeitalter, erst recht in der bevorstehenden Version 4.0. Aufgrund von Einsprüchen mehrerer Ressorts wurden genau diejenigen Passagen gelöscht, die - gestützt auf Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie der Universität Osnabrück - den klaren Nachweis erbringen, dass einkommensstarke Gesellschaftsgruppen einen signifikant höheren Einfluss auf politische Entscheidungen haben als einkommensschwache. Auszug:
>> Wenn beispielsweise nur 20 Prozent der obersten Einkommensgruppe eine Politikänderung befürworten, dann liegt die Wahrscheinlichkeit für deren Umsetzung bei 39 Prozent. Stimmen allerdings 80 Prozent der Befragten aus der oberen Einkommensgruppe einer Politikänderung zu, so liegen deren Chancen auf Umsetzung bei fast 65 Prozent. Dieser deutlich positive und statistisch signifikante Zusammenhang gilt nur für die oberste Einkommensgruppe. Zwar ist der Zusammenhang zwischen Befürwortung und Umsetzung auch für die mittlere Einkommensgruppe leicht positiv, aber nur sehr schwach. Für die unterste Gruppe zeigt sich sogar ein leicht negativer Zusammenhang.<<
Politik wird also im Wesentlichen für die Bezieher hoher und höchster Einkommen gemacht. Wie wenig sich dies mit den Grundprinzipien einer repräsentativen Demokratie verträgt, lässt sich an nachfolgender Passage des oben bereits zitierten Forschungsberichts mit dem Titel "Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015" deutlich ablesen:
>> In einer repräsentativen Demokratie sollte die Politik bei ihren Entscheidungen die Anliegen und Interessen der Bürger_innen berücksichtigen. Der Grundsatz politischer Gleichheit verlangt zudem, dass die Interessen aller Bürger_innen in gleichem Maße berücksichtigt werden und es keine systematische Verzerrung zugunsten einzelner Gruppen gibt. Auch wenn Repräsentant_innen Handlungsspielraum für autonome Entscheidungen brauchen, so sollte prinzipiell ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungswillen und politischem Handeln gegeben sein. <<
Die Entwicklung des bundesdeutschen Bildungswesens seit den 1980er Jahren deutet darauf hin, dass der Grundsatz der politischen Gleichheit als absolute Norm auch in diesem Gesellschaftsfeld, dessen zentrale Kategorie einmal die Herstellung gleicher Bildungs- und Aufstiegschancen ohne Ansehen der sozialen Herkunft war, mittlerweile zur Disposition steht. Ging einst von der "Bildungsexpansion" eine höhere Bildungsbeteiligung breiter Schichten aus und sorgte die im Zuge ihrer Höherqualifizierung erfolgende "Umschichtung nach oben" für einen Demokratisierungsdruck auf die Macht- und Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft, so unterwirft die neoliberale Bildungsökonomie unserer Tage sämtliche Akteure des Bildungssystems den als naturnotwendig und daher unausweichlich dargestellten Gesetzmäßigkeiten bzw. "Herausforderungen" einer globalisierten Informationsgesellschaft. Der in diesem Zusam-menhang geforderte Anpassungsprozess beinhaltet die "Überwindung des traditionellen kapitalistischen Sozialstaates mit seinen noch vorhandenen Bildungsreformruinen" ebenso wie die "Deregulierung" des Schul- und Hochschulsektors sowie die Ausrichtung sämtlicher Qualifizierungsprozesse an den Maßstäben Effizienz (im Sinne von mehr, schneller und billiger), (direkte berufspraktische) Verwertbarkeit und Profitabilität.

Privatschulförderung zu Gunsten der Reichen

In einer "marktkonformen Bildungspolitik" erfährt der Begriff "Chancengleichheit" eine Umdeutung. Er verlagert sich von den Adressaten der Bildung auf die Anbieterseite. Vehement wird von den Privatschulverbänden eine "systematische Unterfinanzierung" privater Schulen durch die öffentliche Hand und eine Beeinträchtigung der Gründungsfreiheit beklagt und "eine gleichwertige Finanzierung von Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft" gefordert, ohne die ein "qualitätsfördernder Wettbewerb um die besten pädagogischen Konzepte [...], von dem das gesamte Bildungssystem" profitiere, sich nicht "voll entfalten" könne (vgl. VDP-Präsident Michael Büchler). Merkwürdigerweise gelten allerdings die staatlichen Schulen als mindestens so unterfinanziert wie die privaten. Noch verwunderlicher: Letztere verzeichnen einen von Jahr zu Jahr anwachsenden Nachfrageboom, scheinen also trotz angeblicher wirtschaftlicher Benach-teiligung gegenüber öffentlichen Schulen beständig an Attraktivität zu gewinnen. Wie passt das zusammen? Oder anders gefragt: Zu wessen Lasten geht denn die Unterfinanzierung der Privatschulen, wenn die Kundschaft diese offenbar nicht spürt? Man ahnt es, wenn man dieses Zitat von "Deutschlandradio Kultur" liest:
Lehrer an Privatschulen hätten mehr Freude an der Arbeit, verdienten weniger und seien trotzdem glücklicher, meint der ehemalige Leiter der privaten Internatsschule "Schloss Salem", Bernhard Bueb.
Dass ein wachsendendes Privatschulangebot einen "qualitätsfördernden Wettbewerb um die besten pädagogischen Konzepte" und damit eines Verbesserung des Bildungswesens insgesamt bewirke, ist eine ziemlich steile These, denn ein qualitätsfördernder Wettbewerbseffekt konnte bislang nicht objektiv belegt werden. Zudem kann der ungebremste Ausbau privater Schulen angesichts rückläufiger Schülerzahlen sogar den Bestand öffentlicher Schulen gefährden. Das Vorhandensein einer genügenden Anzahl öffentlicher Schulen ist aber, wie aus einem für die Max-Traeger-Stiftung erstatteten Rechtsgutachten von Prof. Dr. jur. Hermann Avenarius (Deutsches Institut für Inter-nationale Pädagogische Forschung) hervorgeht, "die als selbstverständlich zugrunde gelegte Bedingung der Verwirklichung des Anspruchs auf Genehmigung einer Ersatzschule". Dies umso mehr, "als eine Auslegung des Art. 7 Abs. 4 GG, wonach der Staat verpflichtet wäre, Privatschulen ohne Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Schulwesens zu genehmigen, zur Konsequenz hätte, dass die durch Art. 6 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1, ggf. auch Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Rechte von Eltern und Schülern auf Zugang zu einer tatsächlich erreichbaren, dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität unterliegenden öffent-lichen Schule beeinträchtigt würden."

Was wir zur Zeit beobachten, ist alles andere als ein Aufbruch des deutschen Bildungs-wesens in die Moderne, angeführt von privaten Bildungsunternehmen, die in "gesunder Konkurrenz"untereinander bzw. gegenüber dem staatlichen Angebot besonders überzeugende pädagogische Konzepte entwickeln. Selbst die preislich exklusivsten Privatinstitute wie die Schule Schloss Salem haben niemals überzeugend nachweisen können, dass der behauptete Mehraufwand oder ihre "Andersartigkeit" zu höheren Lernerfolgen, besser erzogenen Absolventen oder irgendeiner Vorbildfunktion für das staatliche Bildungswesen geführt hätte.

Die gesamte Diskussion unter dem Titel "Privatschule versus öffentliche Schule" scheint sich im Bereich des Postfaktischen abzuspielen bzw. "aus dem Bauch heraus" zu erfolgen. Privatschulen genießen bei Eltern ein hohes Ansehen, das sich aber nicht auf Tatsachen gründet. Umgekehrt sind öffentliche Schulen wohl insgesamt nicht so schlecht, wie sie in den Medien beschrieben werden. Dies zeigt sich in einschlägigen Umfragen, die einerseits eine absolute Mehrheit zufriedener Eltern ausweisen, andererseits aber auch eine erhebliche Abhängigkeit der Zufriedenheit vom jeweiligen individuellen Schulerfolg des Kindes.

Grundsätzlich muss man sich von dem gängigen Vorurteil verabschieden, dass der von einer Schule vermittelte Lernerfolg überhaupt davon abhängig sei, ob die Schule privat oder öffentlich getragen, gut oder schlecht finanziert, modern oder vorsintflutig ausgestattet ist oder was auch immer dem Qualitätsurteil über Schule zugrunde gelegt wird. Hoher Input bei den Bildungsausgaben verbürgt keinen hohen Output bei den Schülerleistungen. Viel hilft eben nicht viel. Und nicht einmalan ausgewiesenen Eliteschulen mit handverlesener Schülerschaft und optimalem Unterricht lernt man mehr als an normalen Schulen.

Wem ist also damit gedient, wenn man staatlicherseits zulässt, dass sich parallel zum öffentlichen Bildungsangebot ein privatwirtschaftliches Bezahlschulsystem "de luxe" etabliert, das - ähnlich wie die private Krankenversicherung - bessere Leistungen gegen Zuzahlung anbietet, wobei es hier eben nachweislich nicht um höhere Leistungen der SchülerInnen und Schüler oder signifikant bessere Lernbedingungen geht.

Indem die private Bildungswirtschaft unverholen damit wirbt, für den elterlichen Extra-Obulus zwar vielleicht nicht den größeren Bildungserfolg, wohl aber aber die angenehmeren Lernbedingungen und vor allem den Zugang zu Beziehungs- und Karrierenetzwerken sowie privaten Universitäten zu garantieren, von denen die Mehrzahl der Absolventen öffentlicher Schulen natürlich von vornherein ausgeschlossen ist, wird genau das als Geschäftsmodell entlarvt, was die Mütter und Väter der Verfassung mit Art. 7 (4) GG zu unterbinden suchten. Es geht grundsätzlich nicht um "bessere Bildung", sondern um die Abgrenzung Reich gegen Arm. [Gerechterweise muss man allerdings hinzufügen, dass diese auch ohne private Ersatzschulen innerhalb des staatlichen Bildungswesens stattfände; dies lässt sich an Segregationsprozessen ablesen, wie sie der WDR beispielsweise für Essen dokumentiert hat. Auch altsprchliche Gymnasien gelten als heimliche Eliteschulen innerhalb des öffentlichen Schulsystems. Und im Primarbereich wird mit allen Tricks versucht, das eigene Kind in einer Grundschule mit gutem sozialen Umfeld unterzubringen.]

Soziale Exklusivität ist auch das mehr oder weniger offen eingestandene Nachfragemotiv der zahlenden Kundschaft privater Bildungsstätten. Dies gilt nicht nur für ausgesprochene gesellschaftliche Eliten, sondern auch die neue Zielgruppe der Privatschulwerbung aus Kreisen der "angeschmierten" bzw. abstiegsbedrohten Mittelschicht, die die hohen Schul- und Internatskosten zum Teil kaum aufbringen kann und daher häufig auf Kosten-ermäßigungen und Stipendien angewiesen ist.

Gerade diese Gruppe reagiert auf wachsende soziale Ungleichheit nicht mit solidarischer Wahrung der eigenen Interessen, sondern mit Abgrenzung "nach unten" und gesteigertem Konkurrenzverhalten. Sie entwickelt das Gefühl, ihrem Nachwuchs dieselben Karrierechancen (= Schleichwege) über private "Elite"-Internate und -Universitäten eröffnen zu müssen, wie sie den Kindern der Oberschicht zur Verfügung stehen. Hierbei werden allerdings oft englische Verhältnisse unterstellt, die in einer solch ausgeprägter Form in Deutschland gar nicht existieren!.

Man gibt sich der Illusion hin, dass der eigene Nachwuchs über teure Privatinstitute, die sich eben nicht jeder leisten kann, in "höhere Kreise" aufsteige und dabei sein werde, wenn die größten Stücke vom Karrierekuchen unter der "Elite" aufgeteilt werden. Soziale Exklusivität oder Absonderung ist hier also keineswegs das ungewollte Nebenprodukt einer falschen Privatschulpolitik des Staates, wie dies gern kommunizieret wird. Die Absonderung ist gewollt, weil Intelligenz und Fleiß für den sozialen Aufstieg nicht mehr auszureichen scheinen. Also sucht man bewusst den Weg über Beziehungsnetzwerke, in die man sich einkaufen zu können glaubt. Auch der Begriff Leistungsgesellschaft erfährt so eine Umdeutung. Es geht beim Wettlauf um die besseren Karriere- und Lebenschancen nicht mehr um die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Kinder, sondern um die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eltern.

Mehr Privatschulen bringen vor dem beschriebenen Hintergrund für das Gemeinwohl und das Abschneiden der jeweiligen Volkswirtschaften im globalen Wettbewerb absolut nichts. Das zeigen allein PISA-Gewinner-Länder wie Finnland oder Estland, in denen es kaum Privatschulen und Internate gibt.

Bananenrepublik Deutschland

Es existiert in der Bundesrepublik ein grundsätzliches Recht auf Errichtung privater Schulen. Das aber darf nicht zu Lasten des Bestandes öffentlicher Schulen gehen. Und nichtstaatliche Schulen dürfen die Sonderung der Schüler nach den Besitzverhälrnissen der Eltern nicht fördern. Da stellt sich jenseits der ganzen Diskussion um die angemessene Finanzierung der privaten Bildungswirtschaft doch die Frage, warum der Staat nicht einfach nur noch solche privaten Schulträger zulässt, die die Lücke zwischen staatlicher Regelfinanzierung und 100%iger Kostendeckung aus eigenen Mitteln (Stiftungsvermögen, Kirchensteuer usw.) aufbringen können, ohne auf einen zusätzlichen Eigenbeitrag der Eltern angewiesen zu sein, die ja ohnehin schon die Kosten öffentlicher Schulen zu 100 Prozent und privater Schulen zu 80 Prozent über ihre Steuern finanzieren.

Dass eine solche restriktive Lösung nicht praktiziert wird, obwohl diese sowohl vernünftig als auch verfassungskonform wäre, hängt damit zusammen, dass politische Entscheidungen sich eben nicht am Gemeinwohl, sondern an den Interessen und Wünschen der Besser-gestellten orientieren (siehe oben).

Wie eng der Schulterschluss zwischen Politik, Geldelite und privater Bildungswirtschaft ist, lässt sich am Beispiel des Landes Baden-Württemberg und zweier "renommierter Eliteschulen" anschaulich illustrieren. Ein sorgfältig gepflegtes Beziehungsgeflecht bürgt dort für eine höchst anstößige Begünstigung privater Bildungsstätten. So sorgte die Regierung Filbinger Anfang der 1980er Jahre für illegale staatliche Finanzspritzen zu Gunsten des durch einen Großbrand stark beschädigten Jesuitenkollegs St. Blasien. Über das Engagement eines weiteren (ehemaligen) Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, diesmal zu Gunsten der Schule Schloss Salem, bemerkte der Überlinger Südkurier:
"Interessant ist eine Personalie, die der Internatsverein auf seiner Internetseite noch nicht nennt. So gehört auch Ex-Ministerpräsident Günther Oettinger dem Kuratorium der Schule an. Das Gremium, das dem Internatsverein angegliedert ist, betreibt in einem gewissen Sinne Lobbyarbeit für das Eliteinternat."
Die Sanierung des markgräflich-badischen Schlosses in Salem am Bodensee, das zu erheblichen Teilen für die Mittelstufe der Schule Schloss Salem genutzt wird und demnächst auch die Unterstufe des Instituts, die sich noch auf Schloss Hohenfels befindet, aufnehmen soll, hat vor diesem Hintergrund durchaus ein G’schmäckle. Als der adlige Eigentümer und einstige Schulpatron des Nobel-Internats aufgrund der hohen Unterhaltskosten der ehemaligen Zisterzienser-Abtei in die Insolvenz zu schliddern drohte, kaufte das Land Baden-Württem-berg unter der Ägide Oettinger (2005 bis 2010)kurzerhand das ganze Baudenkmal samt Inventar für 60 Millionen Euro. Die markgräflichen Alteigentümer behielten ein Dauerwohnrecht in den repräsentativsten Teilen des Ensembles. Für den repräsentativen Auftritt der teuren Privatschule kommt seither der Steuerzahler auf.

Aber damit nicht genug. Bis in die einzelnen Personalien der Schule hinein ist man verstrickt und verbandelt. Als nach der Pensionierung des langjährigen Gesamtleiters Dr. Bernhard Bueb ein chaotisches Interregnum einsetzte, betraute man mit Prof. Eva Marie Haberfellner eine ehemalige Nachbarin Oettingers in dessen Stuttgarter Dienstvilla und Lebensgefährtin des früheren baden-württembergischen Wissenschaftsministers Professor Helmut Engler (vgl. Stutt-garter Zeitung) mit der Gesamtleitung des "Eliteinternats". Selbstverständlich unterhielten auch andere Salemer Celebritäten wie der Vorsitzende des Salemer Kuratoriums und damalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Clemens Börsig [der Oettinger nach dessen Ausscheiden aus der Regierungsspitze von MW einen Sitz im Salemer Schulkuratorium verschafft hatte] enge Beziehungen zur Landespolitik. Börsig ist der Bruder der Landtagsabge-ordneten Veronika Netzhammer aus Singen.

Zwar können enge Netzwerke auch einmal zur Stolperfalle werden, wie der Versuch von Börsig, Oettinger und Konsorten zeigte, die Tochter des ehemaligen Saarländischen Ministerpräsidenten Werner Zeyer (CDU) hinter dem Rücken sämtlicher Schulgremien als Haberfellners Nachfolgerin zu installieren. Der gescheiterte Coup kostete die gesamte Kuratoriums-Riege nach massiven Protesten von Eltern, Schülern und Ehemaligen im Jahr 2010 schließlich ihre Kuratoriumssessel.

Das Networking-System Salems wurde hierdurch allerdings kaum beeinträchtigt. Es funktioniert nach wie vor „wie geschmiert“, könnte man sagen, über alle Parteigrenzen hinweg. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann machte der Schule Schloss Salem bereits seine Aufwartung und ließ sich von ausgewählten Schülern [aber unter den wachsamen Blicken des hinter einem Regal versteckten neuen Schulleiters Bernd Westermeyer] die Vorzüge des Internats erklären (vgl. hierzu auch meinen Beitrag: „Rent a Ministerpräsident“).

Ganz offensichtlich versteht sich die Politik als eine Art Schutzmacht der privaten Bildungswirtschaft. Um die notwendige Zustimmung für eine heimliche Privilegierung nichtstaatlicher Bildungsträger zu sichern, betonen Spitzenpolitiker als gern gesehene Festredner einzelne Privatinstitute fast schon reflexartig als Leuchttürme der Schulreform, an denen auch das öffentliche Bildungswesen sich orientieren könne (Belege siehe die Reden von Johannes Rauund Annette Schavan). Anschauliche Nachweise dieser angeb-lichen Befruchtung der Staatsschule durch die Privaten sind jedoch nur schwer zu finden.

Eyewash durch Staatsschulbashing und Social Washing privater Reichenschulen

Geradezu verheerend wirkt Testimonialwerbung mit Landespolitikern, die den Normalbürgern das öffentliche Schulwesen zumuten, während sie "Eliteinternaten" ihre wohlwollende Aufwartung machen oder die eigenen Kinder auf Privatschulen schicken (vgl. die Berichterstattung über den Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Salem oder die Tatsache, dass der SPD-Kultusminister Stoch seine vier Kinder zur Waldorf-schule schickte).
„Umso mehr freut es mich, dass es euch hier so gut gefällt“, zitiert da z.B. die Schwäbische Zeitung den grünen Landesvater nach einem kurzen Gespräch mit einigen handverlesenen Salemer Schülervertretern, "der hervorhob, dass auch Schulen in freier Trägerschaft ein fester und wichtiger Bestandteil der öffentlichen Schullandschaft (!!!) seien."
Übertroffen wird eine solche undifferenzierte Betrachtungsweise, die sozial exklusiven Reichenschulen wie Salem einen festen und wichtigen Platz im öffentlichen Bildungswesen zuweist, nur noch durch die Tatsache, dass sämtliche gesellschaftlichen Probleme, angefangen bei elterlicher Erziehungsschwäche über mäßiges Abschneiden deutscher Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen (Pisa etc.) bis hin zu Schwierigkeiten bei der Integration von Migranten, von Politik, privater Bildungswirtschaft sowie den auffallend privatschulfreundlichen Massenmedien grundsätzlich vor dem Hintergrund ihrer Auswirkungen auf die Qualität des öffentlichen Schulsystems diskutiert werden (siehe die Dokumentation bei Keller).

Alle gesamtgesellschaftlich verursachten Widrigkeiten bleiben so an den öffentlichen Schulen hängen - als ob Privatschulenhiervon nicht in ähnlicher Weise und private Nobelinternate sogar in ganz besonderem Maße betroffen wären. Zitat aus dem Wirtschaftsblatt "Capital":
» Die Eltern haben eine Heidenangst vor öffentlichen Schulen «
Zitat aus ntv.de:
>>Nach den verheerenden Pisa-Ergebnissen und den zunehmenden Problemen an den staatlichen Schulen zieht offenbar ein "Jahrzehnt der deutschen Privatschulen" herauf. Unterrichtsausfall, Gewalt und nachlassenden Bildungsqualität lösten schon jetzt einen Run auf Privatschulen aus.
Je mehr Privatschulen aufkommen, desto klarer erscheint die Regel: Eltern, die es sich leisten können, suchen die besten Schulen für den Nachwuchs – wer hingegen weniger Geld für die Ausbildung aufbringen kann, muss oft damit leben, dass die Kinder in Brennpunktschulen mit schlechter Lehrmittel-ausstattung sitzen. <<

Und ständig wird mit zweierlei Maß gemessen. Während man einerseits den Kollaps öffentlicher Schulen durch einen hohen Ausländeranteil an die Wand malt, preist man den oft noch höheren Ausländeranteil teurer Internate als "Bereicherung".

Die plumpe Gegenüberstellung von Staatsschulhölle und Privatschulparadies beruht übrigens auf einer bereits seit über 100 Jahren praktizierten und in immer neuen Varianten gebets-mühlenartig verbreiteten PR-Strategie privater Bildungsträger, die vom journalistischen Mainstreambis in jüngste Zeitimmerwiederaufgegriffen undkolportiert (und nur selteneinmal kritisch hinterfragt) wird. Das mediale Staatsschulbashing wird nicht selten bis zur Panikmache gesteigert.

Da kommt doch eher Angst vor dem Niedergang des unabhängigen Journalismus und vor dem Verschwinden einer kritisch-distanzierten und tatsachenorientierten medialen Berichterstattung auf. Wo wären denn die Alarmmeldungen von Qualitätszeitungen unter Überschriften wie:
"Die Eltern haben eine Heidenangst vor Drogentod, Disziplinlosgkeit, niedrigem Schulniveau und Ausländermobbing in deutschen Edelinternaten!"
Oder:
"Eltern haben eine Heidenangst davor, dass ihr Kind durch sonderbare Erlebnispädagogik zur Unternehmerpersönlichkeit geformt und dann ein gieriger, sich selbst überschätzender Wirtschaftskrimineller wird wie die Spitzenmanager bei der Deutschen Bank, bei VW oder anderswo!"

Selbst langjährige Insider und Edelfedern des Qualitätsjournalismus bestätigen immer wieder, dass man den Massenmedien in einer von Wirtschaftsinteressen komplett unterwanderten Medienlandschaft mit größtem Misstrauen begegnen sollte. Von Vereinfachung der Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit ist da die Rede, von Manipulation und Lüge. Eine Einschätzung, die um so realistischer erscheint, je mehr Medienschaffende sich der Wirtschaft als „Berater“ im Nebenjob andienen, von den offensichtlichen Fällen dreistester Schleichwerbung gar nicht zu reden. 

Da mögen einige Galionsfiguren der veröffentlichten Meinung - wie zuletzt bei Maischberger (Sendung vom 30.11.2016) - über das "Lügenpresse!"-Geschrei der Wutbürger ruhig die Nasen rümpfen: Gerade das Thema Privatschulen eignet sich bestens zum Nachweis einer systematischen Desinformation der Öffentlichkeit durch Print und Funk. So wird landauf, landunter - entgegen einer eher ernüchternden Wirklichkeit - das Eigenlob der Schule Schloss Salem verbreitet, der "hervorragenden Schule", "einzigen deutschen Internatsschule von Weltrang", "dem Flaggschiff der deutschen Privatschulen", "der Marke des Jahrhunderts", dem "strengsten", "pädagogisch anspruchsvollsten", "charakterbildensten", "leistungsorientiertesten" usw., usw. Internat Deutschlands. Da fand der ehemalige Salemer Schulleiter Bernhard Bueb in nahezu jeder Talkshow ein Forum für seine weltfremde Privatschulpropaganda und eitle Selbstvermarktung. So ließ man ihn unter anderem - wiederum bei Maischberger - den offenkundigen Unsinn verbreiten, er habe durch Einführung von Zufallskontrollen bei jeweils einem Schüler pro Tag/Schulstufe (allerdings insgesamt 700 Schülern!!!) sowie durch die als "Früchtchenwechsel" bekannte Ver-schiebung von Drogen konsumierenden Zöglingen in andere Internate (für die im Austausch dann allerdings die Junkies der Tauschpartner aufgenommen werden müssen!) das extreme Drogenproblem des Internats in den Griff bekommen sowie Zucht und Ordnung wiederhergestellt! Dabei müsste spätestens nach den seit Frühjahr 2010 in immer neuen Enthüllungen ans Licht kommenden Fällen von inflationärem sexuellem Missbrauch und Gewalt doch inzwischen jedem Mitglied der schreibenden Zunft klar sein, dass in der Welt der Internate nichts so ist wie es scheint und die Zustände gerade in den vermeintlich nobelstenen "Elite"-Internaten die alte Erfahrung bestätigen, dass die Erziehungs- und Verhaltensprobleme am oberen Rand der Gesellschaft noch größer sind als am unteren.

Da sollten es sich die "Leistungsträger" aus den öffentlichen Schulen gut überlegen, ob sie sich mit Stipendien in private Nobelwohnschulen à la Salem & Co. locken lassen. Denn der Ausflug von Normalverdienerkindern in die Schul-Welt der Reichen ist nicht ohne Risiken und böse Überraschungen. Möglichen Vorbehalten versuchen Salem & Co. von je her mit allerlei rührenden Stipendiaten-Stories und wenig aussagefähigen Statistiken vorzubeugen. Von einem Stipendiatenanteil zwischen 20 und 30 Prozent wird da gern fabuliert. Vor allem DIE ZEIT, deren ehemaliger Chefredakteur jetzt Schulvorstand in Salem ist, wurde niemals müde, in immer neuen Homestories das lustige Stipendiaten-Leben hinter Schlossmauern am Bodensee zu romantisieren. Mal war es die Postbeamtentochter Daniela, die mit markigen Sprüchen („Salem ist kein Bonzenbunker!“) der Angst vor dem Aschen-puttelsyndrom entgegentrat, mal der bulgarische Bildungsmigrant Andro, der sich „unter all den Reichen“ pudelwohl fühlte. „Der Spiegel“ behauptete gar, das Geld der Eltern spiele bei der Aufnahme in das deutsche Eliteinternat nur eine untergeordnete Rolle.

Dass die Preisnachlässe für „Geringverdienerkinder“ in Instituten wie Salem schon immer dazu dienten, die Problemgruppe dekadenter Reicheleutekinder mit Hilfe von wohl-erzogenen und leistungsbereiten Kindern aus bescheideneren Verhältnissen zu "entmischen", wird in diesem Zusammenhang nicht so gern thematisiert. Ähnliches gilt für die Tatsache, dass in aller Regel nur Teilstipendien vergeben werden, so dass auch Stipendiaten-Eltern in aller Regel noch 500 Euro monatlich aufzubringen haben. Und was den Wohlfühlfaktor der StipendiatInnen angeht, gibt es da wohl auch wesentlich unschönere Erinnerungen.

Derzeit trommeln die üblichen Verdächtigen wieder wie verrückt, denn es gilt, die sinkende, in den unteren Jahrgängen teilwiese sogar förmlich wegbrechende Nachfrage um jeden Preis auszugleichen. Doch der Zulauf scheint sich in Grenzen zu halten und so nimmt man, was man kriegen kann: Mehr Schüler aus dem Ausland, mehr schwierige Schüler von Jugendämtern und Stipendiaten, deren Noten gar nicht mal allzu gut sein müssen.

Populismus




ULRICH LANGE
13.01.2017 | 10:52 5

Volkes Stimmung


Panorama vom 12.01.2017 | Die Vertrauenskrise zwischen Politik und Bevölkerung reicht bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Das wirft Fragen auf. Aber werden überhaupt die richtigen gestellt?
Das rheinland-pfälzische Haßloch gilt laut Statistik als durchschnittlichster Ort Deutsch-lands. Und eine aktuelle Studie der Bertelsmannstiftung belegt: Ganz Deutschland geht es so gut wie nie! Und wenn es ganz Deutschland gut geht wie nie, muss das auch auf den durchschnittlichsten Ort Deutschlands zutreffen, den man auch - wegen der fehlenden historischen Stadtrechte - "das größte Dorf Deutschlands" nennt. Trotzdem haben - ÜBERRASCHUNG! - über 18 Prozent der wahlberechtigten Haßlöcher sich bei der Kommunalwahl 2016 für die AfD entschieden. Das ist deutlich mehr als im Landes-durchschnitt (12,6 Prozent). Grund genug für "eines der erfolgreichsten Politik-Magazine des Deutschen Fernsehens" (Eigenlob ARD), diesem vermeintlichen Widerspruch in einem 27-minütigen Beitrag mit dem Titel "Wozu Demokratie?" nachzuspüren und am Haßlocher Exempel aufzuzeigen, wo die Ursachen der wachsenden Entfremdung zwischen den Bürgern und ihren lokalen Volksvertretern liegen, als die der kommunale Erfolg der Rechtspopulisten mal so en passant interpretiert wird.

Falsche Prämissen, falsche Fragen

"Manch einer denkt offenbar", so eröffnet Moderatorin Anja Reschke mit der strengen Miene einer katholischen Grundschullehrerin im Sexualkunde-Unterricht das kommunalpolitische Seminar, "man brauche gar keine Demokratie mehr." Ist das wirklich das Problem? In dem dann folgenden Filmbeitrag wird nur eine einzige bizarre Stimme aus der Hasslöcher Bevölkerung vorgeführt werden, die lieber wieder einen Kaiser oder König hätte. Ansonsten greift man auf bundesweite Umfragen zurück, die unter anderem 11 Prozent der Gesamtbevölkerung als Befürworter des Führerprinzips ausweisen. Und ob da nicht möglicherweise türkische Erdogan-Anhänger mit deutschem Pass mitgezählt wurden, bleibt vollkommen außerhalb der Betrachtung. Hinweise darauf wären uns vielleicht sogar aufgrund irgendwelcher sender- oder redaktionsinternen Sprachregelung vorenthalten worden, weil uns das unnötig beunruhigt hätte. Das nur zum Thema: Wie lügen Medien und warum?

Die Panorama-Autorinnen Fabienne Hurst und Jasmin Klofta entwickeln ihr Thema Demokratieskepsis im "Minideutschland Haßloch" entlang der zweifelhaften Hypothese, dass sich dort antidemokratische Einstellungen trotz, also im Widerspruch zu dem dort herrschenden Wohlstandniveau entwickelten. Damit konstruiert man zugleich den moralischen Vorwurf vom "undankbaren Bürger", der die ganze Reportage störend durchzieht wie Gräten ein schlecht entgrätetes Fischgericht. Ob Wohlstand eine Voraussetzung der Demokratie oder umgekehrt Demokratie eine Voraussetzung für Wohlstand sei (vgl. Modernisierungsthese) gilt unter Experten als noch nicht eindeutig entschieden. Henne oder Ei? Die empirische und vergleichende Demokratieforschung kennt keinen Deter- minismus, der bei Vorliegen der einen oder anderen Voraussetzung demokratische Verhältnisse eintreten lässt. Entstehung und Stabilität demokratischer Ordnungen hängen von vielerlei Faktoren ab.
Monokausale Wirkungsketten scheinen zur Erklärung des Phänomens AfD ungeeignet. Ulrich Schulte reduziert den Erfolg der Rechtspopulisten in der "taz" auf die Formel "geronnener Hass". Dass nun ausgerechnet ein Ort namens Haßloch bei Panorama zum Referenzobjekt für die aus geronnenem Hass aufkeimende Demokratieverdrossenheit wird, ist wohl eher eine Zufallspointe als filigranes Wortspiel. Journalistische Aufgabe hätte es nun allerdings sein müssen, besser verstehen zu helfen, was da gerade in einem Deutschland geschieht, das sich nach einem zunächst schwierigen Weg zur Demokratie bis zuletzt gern als "Erfolgsmodell" gefeiert hat und plötzlich - wie viele andere Länder der westlichen Hemisphäre auch - von erdrutsch-artigen Wahlerfolgen der Rechtspopulisten erschüttert wird.
Die Zustimmung der Bevölkerung zu den etablierten Parteien schwindet seit längerem. Doch machte sich dies zunächst nur als Zuwachs des Nichtwählerlagers bemerkbar. "Doch immer" lesen wir auf RP-Online,
"wenn sich die Elite eines Systems – sei es Kirche, Gewerkschaft oder eben die Parteiendemokratie – allzu sicher wähnt, stellen sich Verschleißer-scheinungen ein. Wie ihrer Schwester, dem Kapitalismus, ist auch der Demokratie, der "besten aller Regierungsformen" (Winston Churchill), das Ende der Systemkonkurrenz nicht immer gut bekommen. Populistische Demagogen, Ein-Thema-Parteien oder Polit-Clowns machen den etablierten Parteien in fast allen Ländern der westlichen Welt das Leben schwer. Umgekehrt haben die Platzhirsche unter den Parteien den Staat zum Teil in Besitz genommen. Wichtige Posten werden nach Proporz vergeben, Klientelinteressen werden bedient und die Kosten auf die Allgemeinheit überwälzt. Besonders die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat das fragile Gebilde Demokratie im Westen großen Erschütterungen ausgesetzt. Wenn plötzlich die Steuerzahler für die Fehler der Finanz- und Staatselite aufkommen müssen, sind sie schnell bereit, radikalen und simplen Problemlösern die Stimme zu geben. Wenn den etablierten Parteien [oder (ehemaligen) Spitzenpolitikern, d. Verf.] noch Selbstbedienungsmen-talität bescheinigt wird [...], gerät das System aus den Fugen."
Vor dem Hintergrund solcher - mittlerweile doch gut kummunizierter - Erkenntnisse erscheint es unverständlich, dass Panorama sich auf eine Deutschland-Expedition begibt, die in der Vorderpfalz aufrechte Lokalpolitiker aufstöbern soll, die sich für das Gemeinwohl den Allerwertesten aufreißen sowie sich die Hacken ablaufen, um die Wünsche des Bürgers zu erfragen, während der wider alle haushälterische Vernunft nur Wohltaten einfordert, Ausländerfeindliches absondert, sich statt für die großen Fragen der Demokratie nur für das Kleinklein der unmittelbaren Nachbarschaft interessiert und trotz eigenen Wohlergehens und damit entgegen der eigenen Interessenlage der Partei der abgehängten Wutbürger aus dem Stand zweistellige Wahlergebnisse beschert. Einen Kurzbeitrag hat man eigens ausgekoppelt, um in 01:25 min die Leiden der Vorsitzenden von CDU und SPD beim "Klinkenputzen für die Demokratie" zu dokumentieren.

Problemblind

Warum nimmt Panorama die im wortwörtlichen Sinne "vielschichtigen" Ursachen für Demokratiefrust und Wählerprotest nicht zur Kenntnis? Dass nicht nur die Wende-Looser aus dem Osten und Strukturwandel-Opfer aus dem Ruhrpott AfD wählen, ist doch inzwischen vielfältig belegt. Was bringt es noch, den Popanz aufzubauen, dass da in der Vorderpfalz tumbe Dialektgeschädigte trotz hohen Einkommens eine Armeleute-Partei wählen?
Laut Analyse der taz ist die AfD "die ideale Projektionsfläche für viele", die von Europa enttäuscht sind und denen Merkels CDU zu "sozialdemokratisch" geworden ist. Das aber steht in keinerlei Widerspruch zu der aus Sicht der Statistiker insgesamt (noch) komfortablen Lebenslage der Gesamtbevölkerung. Gleiches gilt für Zukunftssorgen Vieler angesichts weltweiter Sozial- und Wirtschaftskrisen bzw. militärischer Konflikte. Im Gegenteil: Je mehr man hat, desto mehr hat man auch zu verlieren. Fazit: Auch satter Wohlstand des Wahlvolks nützt den etablierten Parteien gar nichts, wenn die "German Angst" um sich greift und man den alten Eliten nicht mehr zutraut, die Bedrohungen abzuwehren.
Dass die AfD auch die Verbitterten, die "Pedigisten der Republik" (taz), hinter sich versammelt und auch bei diesen "mit den Flüchtlingen das ideale Mobilisierungsthema gefunden" hat, das ihr "auf nicht absehbare Zeit die Verängstigten" zuführt, beweist lediglich, dass "besorgte Bürger" aus sehr unterschiedlicher Lebenssituation heraus besorgt sein und trotzdem dieselbe (Protest-)Partei wählen können. Und je größer der Abstand der Betrachtung bzw. je internationaler die Betrachtungsweise, um so mehr verschmelzen die Wahlmotive der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. So wird der wissenschaftliche Leiter der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, Ulrich Reinhardt, in der Illustrierten Stern wie folgt zitiert:
"Die gegenwärtige humanitäre Krise und die zunehmende Angst vor Terroranschlägen hat die Bevölkerung tief verunsichert und lässt sie an einer positiven Zukunft zweifeln [...] Der Rechtstrend bei Wahlen in Polen, Frankreich, Ungarn, Österreich, Schweden, Großbritannien, Dänemark oder der Schweiz zeigt in ganz Europa die große Verunsicherung der Bevölkerung, die Angst um den eigenen Wohlstand hat, sich vor Überfremdung fürchtet und nationale Interessen in den Vordergrund stellt."
Das hätte eine erste differenzierte Antwort auf die Frage sein können, warum eine wachsende Zahl der Bürger sich von den Volksparteien abwendet und das traditionelle Demokratie-Modell immer weniger schätzt. In der Vorderpfalz zu wohnen, heißt schließlich nicht, die Krisen-Ursachen in der Welt, in Bund und Land nicht wahrzunehmen.

Demonstration am falschen Objekt

Doch der Panorama-Beitrag setzt problemblind bei einem lokalen Konfliktthema an, um Belege einer wachsenden Demokratieskepsis der angeblich für ganz Deutschland repräsentativen Haßlöcher zu finden, nämlich der drohenden Schließung des Hasslocher Badeparks (Freibad). Ein schwieriges Unterfangen. Da mögen noch so viele Hersteller von Konsumgütern in der durchschnittlichsten Gemeinde Deutschlands die Marktfähigkeit ihrer Produkte testen lassen - allgemeine Rückschlüsse auf den Wandel politischer Einstellungen und Werthaltungen sind dann doch noch etwas anderes.
Tatsächlich entstand unter den knapp über 20.000 Haßlöchern im Zeitraum der Panorama-Recherche ein Konflikt um die von den Rathausfraktionen beschlossene Schließung des örtlichen Schwimmbads. Das fährt eine Million Euro Miese pro Jahr ein. "Geld, das woanders dringend gebraucht würde", wie der Hofberichterstatter von Panorama das Problem aus dem Off affirmativ erläutert. Leider erfährt man aber über dieses woanders Dringendere weiter nichts, so dass ein Abwägen der Optionen schwer fällt. Warum hat man denn früher so viele Schwimmbäder gebaut? Nur weil die Lokalpolitik ihre Wähler durch Geschenke bei Laune halten wollte, wie die Panorama-Autoren dies unterstellen?
„Unsere öffentlichen Bäder haben eine herausragende Bedeutung für den Freizeitwert und die Lebensqualität unser Städte",

rechtfertigte z.B. im Jahr 2013 die hessische Staatsministerin Lucia Puttrich die millionen-teure Sanierung eines Hallenbades im etwa vergleichbaren 25.000-Einwohner-Städtchen Butzbach. "Auch machte die Ministerin deutlich", heißt es in der Presseerklärung des Ministeriums für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz weiter,

"dass Hallenbäder nicht nur einen Freizeitwert besitzen, sondern auch Ausbildungszentrum für Schulen, Breiten- und Leistungssport, sowie wichtig für Gesundheit, Fitness und Rehabilitation sind."
Gilt das für das Haßlocher Schwimmbad nicht? Panorama sieht darin - merke auf - das "Symbol einer Zeit, in der es immer nach oben ging und Vater Staat seinen Kindern Geschenke machte." Die Schwimmbadbenutzer dagegen haben eine ganz andere Wahr-nehmung. O-Ton Panorama:
"Deutschland hat für jeden Geld. Nur für die eigenen Leute nicht. Für die Oma nicht, für den Opa nicht, für den Kindergarten nicht, für das Schwimmbad nicht."
Und:
"Weil von oben herunter gemacht wird, was die für richtig halten, und oft nicht, was das Volk für richtig hält."
"Ich tät' sagen, die sollen sich alle anstrengen, dass wirklich die Bäder offen sind. Das ist das A und O. Luxus des kleinen Mannes, in meinen Augen."
Ist die Sichtweise von Otto und Ottilie Normalverbraucher in diesem Zusammenhang denn so falsch? Panorama schlägt sich jedoch kompromisslos auf die Seite der alteingesessenen Parteipolitiker, die Haßloch so lange mal abwechselnd, mal gemeinsam, aber vor allem immer ungestört von nörgelnden Protestwählern, regiert haben:
"Was also tun als Kommunalpolitiker? Eigentlich müsste man das Bad verkleinern oder schließen. Aber sowas einfach entscheiden oder durch-setzen, traun sie sich nicht mehr. Lieber wollen sie sich die Sparmaßnahmen von den Hasslochern absegnen lassen. Per Bürgerbefragung."
Und die Bürger haben dann ganz anders entschieden als von den Großkoalitionären aus CDU und SPD erhofft. Der Gegenvorschlag einer Bürgerinitiative und der Opposition, zusätzlich zu investieren, um das Bad größer und attraktiver zu machen und dadurch wieder höhere Einnahmen zu erzielen, setzte sich durch. 59 Prozent der Bürger hat das überzeugt. Demokratischer geht`s eigentlich gar nicht. Aber Panorama empört sich:
"Ausgerechnet der Bürger will das Finanzproblem jetzt auch noch ver-schlimmern."
Auch die so genannten Volksparteien zeigen sich als schlechte Verlierer und würden jetzt gern ein neues Volk wählen. Doch erstmal bekommen diese Weicheier von Volksvertretern von Tante Fabienne und Tante Jasmin ordentlich den Marsch geblasen:
"Ein selbst eingebrocktes Dilemma. Statt die Bürger zu befragen, hätten die Politiker auch selbst entscheiden können. Sicher unpopulär, aber schließlich wurden sie gewählt, um solche schwierigen Probleme zu lösen. Nun müsste man noch mehr Schulden machen, um Volkes Willen ganz zu erfüllen."
Was sollte an der Schwimmbad-Thematik denn nun eigentlich gezeigt werden? Wo waren die Wutbürger, wo die nicht gesprächsbereiten Politiker? Letztere sahen vor allem deshalb so schlecht aus, weil sie sich in die falsche Rolle des Politik-Dienstleisters haben drängen lassen, der am Ende zusehen muss, wie er das Geld für die Erfüllung der unbescheidenen Wünsche des nimmersatten Wählers zusammenbringt. Was hier fehlt, ist qualifizierte Bürgerbeteiligung. Sind Verfahren, die Vertreter von Bürgerinitiativen und sonstige Inter-essierte im Vorfeld der Entscheidungen hinsichtlich des erforderlichen Sachverstands auf Augenhöhe bringen, eine ernsthafte Erörterung von Alternativlösungen erlauben und am Ende in ein qualifiziertes Abstimmungsverfahren und eine breite Information der Öffentlichkeit einmünden.

Bürgerschelte und erschrockene Gutmenschen

Doch zurück zur Bürgerschelte. O-Ton CDU-Mitglied:
"Manchem gehört wirklich das Wahlrecht entzogen, ne. Die wählen einfach was, ohne überhaupt nachzudenken."

Dem würde man so nicht unbedingt zustimmen, denn diese Art des Umgangs der Politik mit dem Wahlvolk soll doch die Krise der Demokratie erst hervorgerufen und dazu geführt haben, ein umfangreiches Arsenal neuer Formen von Bürgerbeteiligung auf europäischer wie auf nationaler Ebene zu entwickeln.


Doch da hat Panorama vorgebaut und bis dahin schon einige peinliche Hinterwäldler als typische Beispiele für demokratieunwürdiges Wählerpack präsentiert. Die ALG II-Empfängerin Martina B. zum Beispiel, die einmal in der Woche bei der Tafel nach kostenlosen Lebensmitteln ansteht. Die ist erkennbar wenig gebildet, geht schon lange nicht mehr wählen (Kommentar: " 'Bringt nichts', sagt sie. Für sie mache ja eh keiner was.") und findet diese ganzen Parteien und parlamentarischen Gepflogenheiten doof. Früher sei es doch viel schöner gewesen, wo jedes Land seine eigene Währung und einen "eigenen Präsidenten" hatte, um seine nationalen Interessen zu verteten. Wahlen, so erklärt sie (allerdings erst auf suggestive Nachfrage der Reporterin), brauche es nicht, "wenn man einen König oder Kaiser hätte, der entscheiden könnte". Da wäre alles weniger kompliziert und würde "schneller gehen für das Volk". Leute mit anderer Meinung als die Obrigkeit, so erklärt sie wieder nur auf journalistischen Vorhalt, müssten eben veranlasst werden, nochmal gründlich darüber nachzudenken (was immer das heißt), ob sie nicht doch falsch liegen. Und auf die Reporterfrage, was denn wäre, wenn der Kaiser ihr einfach mal die Stütze streichen würde, weiß sie keine Antwort. Und wer denn denen geholfen habe, denen SPD, CDU, Grüne und FDP unter der Regierung Schröder/Fischer 2005 die Sozialleistungen zusammengestrichen hatten, wird sie vorsichtshalber nicht gefragt. Dann würde sie "auf der Straße leben", sagt sie. Allein die Vorstellung lässt Tränen aufsteigen, und es flackert nackte Existenzangst hinter ihren Brillengläsern. O-Ton:
"Ich lass mich eigentlich nicht unterkriegen. Es wär' saumäßig."
Aber nun kommen endlich auch Gutsituierte zu Wort. Den einen stört der Lärm aus den benachbarten Sozialwohnungen der Stadt. Das Asylanten- oder Flüchtlingsproblem scheint etliche zu bewegen. Die Beherrschung der Hochsprache liegt allerdings (uralter Kabarettisten-Joke!) bei der interviewten Urbevölkerung oft auf ähnlich unbefriedigendem Niveau wie bei mehr oder minder frisch Zugewanderten, deren vermischungsfreudige Offerten man sich verbittet.
O-Ton Anwohnerin einer besseren Wohngegend (keine Einblendung des Namens):
"Da sind viele Asylante, mit dene wir uns rumkämpfe müsse. [...] Ich fühl mich als Deutscher hier nicht mehr richtig wohl. Wenn ich Ausländer um mich rum haben möcht, fahr ich ins Ausland. [...] Es könnte einiges besser gestaltet werden. Aber da müsste man richtig dran arbeiten."
O-Ton älterer Anwohner (keine Einblendung des Namens):
"Die kriege alles in de Arsch geschobe. Wenn ich mich erinnere als Kind, wie wir gelebt hen, und was die heut' in de Arsch geschobe kriege, das geht auf kei Kuhhaut.
O-Ton Michael H., pensionierter Polizist, CDU-Mitglied und Eigenheimbesitzer:
"Das sind Spekulationen, sind aber die Sorgen, die viele, viele Mitbürger in unserem Land hier haben: Dass das alles dazu führt, dass irgendwann einmal von Unsereinem nicht mehr viel übrig ist. Dass diese Republik in der Tat eine andere wird. Wenn das so kommen sollte, dann würde das deutsche Volk - eine weiße Hautfarbe hat es ja nun mal - das wäre dann von der Bildfläche getilgt."
So viel Unaufgeklärtheit und Provinzialität schreit natürlich förmlich nach moralischer Zurechtweisung. O-Ton Dieter Schumacher, SPD-Vorsitzender von Haßloch:
"Ich bin hier aufgewachsen. [...] Von der Seite her kenn ich die alle. Und ich weiß, dass es vielen gut geht. Und ich weiß, dass gerade hier in der Gegend es nicht einen einzigen Asylant gibt, nicht einen, vor dem man sich fürchten muss. Und dass die dann trotzdem alles so wahrnehmen, das erschreckt mich, erschreckt mich wirklich."
Aber sind die gezeigten Beispiele wirklich so furchterregend , wie man uns das hier glauben machen will? Der Versuch der Panorama-Reporter, den Niedergang der Demokratie ausgerechnet anhand der im Bevölkerungsdurchschnitt weit verbreitXenophobie zu illustrieren, ist mehr als fragwürdig. Die ständigen Berichte der Medien über Ausländer-kriminalität, aggressives Betteln, gewalttätige Übergriffe, Taschen- und Einbruchsdiebstähle, islamistische Attentate usw. verbinden sichin den Köpfen vieler Menschen mit biologisch "vererbten" Urängsten, die in einem primitiven Teil des Gehirns entstehen und sich deshalb von rationalen Überlegungen nur schwer steuern lassen. Man weiß nicht einmal, ob diejenigen, die da vorgeführt werden, tatsächlich demnächst der AfD zum Opfer fallen oder einfach nur zur fremdenängstlichen Bevölkerungsmehrheit zählen, die in allen Gruppierungen der Gesellschaft vertreten ist.

Auflösen nach (ni)x

Nach solch verstörenden Jagdszenen aus der vorderpfälzischen Provinz erscheint es der Panorama-Crew nun doch noch geboten, die internationale Dimension des Themas ins Spiel zu bringen. Vor dem Hintergrund rasch übereinander geblendeter Symbolbilder wie Europakarte, Straßenschluchten zwischen Wolkenkratzern, einer asiatischen Textilfabrik und einem endlosen Zug von Flüchtlingen stellt ein Erklär-Bär magisch aus dem Off die Frage aller Fragen:
"Ist es wirklich nur die Politik, die komplizierter geworden ist. Oder sind es die Probleme, die zu bewältigen sind?"

Und damit mutiert Panorama endgültig zur  "Sendung mit dem Klaus". Das tut einem vor allem für Moderatorin Anja Reschke leid, die mit ihrer zu Recht preisgekrönten Reportage "Wie Bildung Klassen schafft" bewiesen hat, dass man die Entwicklungstendenzen dieser Gesellschaft auch sachkompetenter analysieren kann.


"Jedes ungelöste Problem schürt Misstrauen am Staat, an der Demokratie!", belehrt die altkluge Stimme aus dem Off. Mal abgesehen von der ungelenken Sprache: Probleme stürzen nicht mal einfach so vom Himmel herab und fallen dann "dem Staat" vor die Füße. Sie sind mehrheitlich von falscher Politik verursacht worden und müssen von konkreten Personen, die zumeist die Interessen anderer konkreter Personen mit Hilfe dieser Politik durchgesetzt haben, auch verantwortet werden. Und darüber muss man aufklären. Und das muss man auch einfordern. Und deshalb wehrt sich der "Wutbürger" zu Recht gegen eine Politik, die Teil des Problems, aber immer seltener Teil der Lösung ist. Da mag man sich über bestimmte Formen des Protests entrüsten, doch gehört dies zur Waffengleichheit in einer freien Gesellschaft. Bestimmte Formen der Politik sind schließlich genauso unqualifiziert, unverschämt oder unfair.

Was ist denn die wahre Ursache der Sparzwänge in den Städten und Gemeinden, die dazu führen, dass nicht nur in Haßloch wichtige Sport- und Freizeitstätten zur Disposition stehen? Oder die wahre Ursache der Banken- und Finanzkrise von 2005, die viele Menschen in Zukunftsängste stürzte? Dito die Finanzkrise von 2007-2010, die zur Schuldenkrise wurde? Oder was ist die wahre Ursache der Flüchtlingskrise, die den Staat so massiv überfordert, dass ohne ein Heer von ehrenamtlichen Helfern längst die humanitäre Katastrophe ausgebrochen wäre?
Und nur, um in diesem Zusammenhang mal mit diesen ewigen Integrations-Mythen aufzuräumen: Die Vertriebenen aus dem Osten wurden während des letzten Weltkrieges und erst recht in den von Hunger und Wohnungsnot geprägten Folgejahren von Ihres-gleichen im westlichen Teil des Vaterlandes alles andere als freundlich aufgenommen. Nächstes Stichwort Wiedervereinigung: Mehr als 20 Jahre nach dem Fall der Mauer klaffen laut "Berliner Tagesspiegel" die "reale und gefühlte Vereinigung weit auseinander.

"Objektiv ist sie abgeschlossen, der doppelte deutsche Michel hat heute nur einen Leib. Subjektiv jedoch, also im Kopf, sind Ost- und Westdeutsche noch lange nicht eins. So fanden beim „Thüringen-Monitor“ 2008, noch über 60 Prozent der Befragten, Westdeutsche behandelten Ostdeutsche wie „Menschen zweiter Klasse“. Unter den 18- bis 20-Jährigen waren sogar 76 Prozent dieser Ansicht. Vor allem die Familien der Vereinigungsverlierer, so Wagner, tradierten das Vorurteil, der Westen sei an allem schuld. Ein Fünftel der ostdeutschen Bevölkerung erwies sich als DDR-nostalgisch. Auch im Westen gedeihen massive Vorurteile, und zwar in allen Schichten, umso mehr, je weniger Ostdeutsche man kennt."

Auch kein Ruhmesblatt: die Probleme der seit Anfang der 1960er Jahre zugewanderten Türken, nachzulesen in dem ZEIT-Beitrag "Glückwunsch, Türke!". Aber der Supergau des kollektiven Integrationsversagens kommt zum Schluss. Werfen wir zunächst mal einen Blick auf die Integration von Behinderten in unsere Konsum- und Leistungsgesellschaft. Da wäre noch unendlich viel zu tun. Aus Integration soll dennoch jetzt Inklusion werden. Eine Mammutaufgabe für Jahrzehnte, die nicht einmal im Ansatz gelöst ist. Und gerade jetzt erreicht uns der Oxfam-Bericht über die derzeitige Verteilung von Reichtum und Armut in der Welt. Die ersten acht Männer im Forbes-Ranking besitzen ein gemeinsames Vermögen von 426 Milliarden US-Dollar, mehr, als der gesamten ärmeren Hälfte der Weltbevölke- rung - über dreieinhalb Milliarden Menschen - zur Verfügung steht. Mag die Methodik der Studie auch umstritten sein. Fakt bleibt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer dramatischer auseinanderklafft. Auch in unserem Land, wo laut Oxfam 36 Milliardäre so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Deutschen, gibt es eine himmelschreiende Gerechtig-keitslücke, die interessanterweise auch nach sozialdemokratischer Auffassung nur durch einen "starkenStaat" (!!!) beseitigt werden kann, der in der Lage ist, die Steuervermeidung von Wohlhabenden und internationalen Konzernen zu bekämpfen (globaler Mindeststeuer-satz für Konzerne), für Transparenz der Gewinnerzielung von Apple, Google und Co sorgt, und Steuerparadiesen den Garaus macht. Vorerst aber schaut nicht nur Mutti bei diesem Thema stumm auf dem ganzen Tisch herum, während die soziale Spaltung der Gesellschaft immer deutlicher ins Auge fällt. Diese speist und verstärkt sich aus diversen Quellen: Depravierung und Exklusion aufgrund staatlicher Sozialpolitik, Segregation aufgrund der Mechanismen des Wohnungsmarktes, Altersarmut aufgrund unterbrochener Erwerbsbio-grafien oder infolge von Leiharbeit und Niedriglöhnen, aber auch so kompliziert klingenden Ursachen wie dem "Phantasma einer sozialmoralischen Ansteckungsangst (Bude)", womit die Abgrenzungsbemühungen einer von Bildungspanik besessenen, aufstiegsorientierten Mittelschicht gemeint ist, die ihrem Nachwuchs den Kontakt mit Hartz-IV-lern, Migranten aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum sowie all den anderen zu ersparen versucht, die in Verdacht stehen, ihre eigene Bildungskompetenz und Bildungsmotivation nicht zu teilen.


Die Politik - von deren Spitzenvertretern im Bund bis ganz hinunter auf die Gemeindeebene - erweist sich nun aber gegenüber dieser Armutsentwicklung einschließlich der damit verbundenen besonderen Problemlagen und sozialen Konflikte oft als unsensibel, uninformiert und vor allem handlungsunfähig, redet die Dinge schön und hat nichts Besseres zu tun, als die Probleme jeweils auf die Menschen "vor Ort" abzuwälzen: Beispielsweise auf die Anwohner ghettoisierter Stadtviertel, die öffentlichen Schulen, die Kirchengemeinden, die Ehrenamtlichen u.v.a.m.
Anstatt nun aber die realen und nachvollziehbaren Gründe der verbreiteten Politiker- (NICHT Demokratie-)Verdrossen-heit zu reflektieren, spielt Panorama den Ball zurück zu denjenigen, die - scheinbar ohne Not - falschen und extremen Vorstellungen darüber anhängen, wie ein "starker Staat" (siehe oben!) auszusehen hätte.
"48 Prozent der Deutschen bezweifelten, dass die Demokratie wirklich funktioniert."

Na sowas, wo die das wohl her haben? Die restlichen 52 Prozent scheinen dagegen auf dem Mond zu leben oder noch an den Weihnachtsmann zu glauben. Hat man da überhaupt die Vertreter der deutschen Wirtschaft mitgezählt, in deren Augen die Politik doch auch nichts richtig macht?

"Eine einzige starke Partei wollen immer noch 22 Prozent der Deutschen."
Mehr nicht? Was machte denn die CSU, wenn sie plötzlich von 90 Prozent der Bajuwaren gewählt würde? Wird dann eine demokratische Obergrenze eingezogen und alles über 55 Prozent zur SPD geschickt?
"Einen Führer, der das Land mit starker Hand regiert, wünschen sich sogar über 11 Prozent."

Wieso eigentich "sogar" bei dem geringsten Prozentwert in der Aufzählung? Hat man schon mal untersucht, wie hoch der Wunsch nach starken Führern in den Leitungsetagen der deutschen Wirtschaft, auf den Trainerbänken deutscher Sportclubs oder bei den Bewohnern deutscher Flüchtlingsunterkünften ist?

Plumpe Manipulation

Unter den schlichten Gemütern, die der Filmbeitrag vorführt, scheint sich kein einziger Fürsprecher des bestehenden Demokratiemodells gefunden zu haben. Doch da ist ja noch der Take mit dem kurdischen Gemüsehändler, der noch nicht durch zu viele Wahlgeschenke verdorben ist und deshalb gern was Gutes über die Demokatie sagen will:
"In Europa gibt es die Menschenrechte. Es gibt Demokratie. Die Menschen ist frei. Ihre Meinung können sagen über Religion, über Freiheit, über seine Leben. Ist Menschen ist frei. Wenn sie was wolle machen, eine Straße machen oder irgendwas machen, die Fragen die Leute. Die fragen. Das müssen wir [in der Türkei, d.Verf.] auch machen. Bei uns in der Heimat die fragen garnix. Die machen Autobahn in Acker und niemand fragt. Die machen Straßen überall und fragen dich nix."

Ob das die Gegner von Ortsumgehungen, tiefer gelegten Bahnhöfen oder Windkraftanlagen auch so sehen? Einfach mal bei Google den Begriff "Protest gegen Ortsumgehung" eingeben bzw. unter "Polizeieinsatz Stuttgart 21" oder "Industrialisierung ländlicher Räume" recherchieren. Aber toller Coup, Panorama. Wie früher in der Schule. Da reden alle dummes Zeug. Und dann fragt der Lehrer den Streber. Und alle senken beschämt den Kopf (und verstecken dem Streber auf dem Nachhauseweg den Schulranzen).
Man kann sich die Realität auch nach eigenem Gusto zurecht machen wie Pippi Langstrumpf. Aber, werte Panorama-Redakteure, wir sind hier nicht beim Kinderfunk und auch nicht bei "Wetten dass?" oder "Wünsch dir was", sondern bei "So isses!". Da nützt es auch nichts, wenn am Ende des Beitrags der Hasslocher Bürgermeister seinen Schreibtisch auf den Markplatz stellt und den Bürgerfreundlichen und Gesprächsbereiten mimt. Oder sitzt der da jetzt jeden Tag, um sich die "Sorgen und Nöte" seiner Wähler anzuhören? Dann könnte man doch das Rathaus verkaufen und den Erlös in ein schöneres Schwimmbad investieren!?


Panorama indessen führt mit Hilfe der rührenden Szene vom unter freiem Himmel campierenden Stadtoberen wieder den tumben Pöbel vor. Statt die Gelegenheit zu nutzen, um mit ihrem Stadtoberhaupt nun endlich die zentralen Fragen eines modernen Demokratieverständ-nisses zu erörtern, etwa warum die Politiker gegen das Volk entscheiden oder nicht das getan werde, was das Volk will, geht's diesen Spießern nur um Kleinkram: Straßenbeschilderung, Geschwindigkeitskontrollen im Tempo-30-Bereich, Poller am Parkplatz und eine Drogerie für die alten Leut'.
Tja, was schreibt man denn normalerweise so auf seinen Wunschzettel? Weltfrieden? Faire Handelsbeziehungen mit Afrika? Verzicht auf lukrative Rüstungsdeals, die viele Arbeitsplätze erhalten? Angemessene Steuern für die Reichen und gerechte Aufteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen? Bändigung der Finanz-industrie? Einschneidende Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und organisierte Kriminalität?

Also entschuldigen Sie mal, das sind alles Probleme, die man weder lösen kann noch lösen will auf einem Marktplatz in der Pfalz, obwohl sie die Spielräume politischer Entscheidungen oder die bestehenden Verhältnisse maßgeblich beeinflussen. Und wo man etwas machen könnte, fehlt entweder das Geld oder die übergeordneten Behörden blockieren. Die Verwaltungen sind unterbesetzt, die politischen Ämter unattraktiv. Ortsbürgermeister arbeiten ehrenamtlich. Für ca. 80 rheinland-pfälzische Ortsgemeinden hat sich nicht mal ein Bewerber für das Amt gefunden. Von "Basisdemokratie ohne Basis" spricht der Deutsch-landfunk. Auch die Hauptamtlichen haben dank der ortsüblichen Kommunalverfassungen wenig zu melden. Sie können nur Vorschläge machen und müssen das exekutieren, was Magistrate und Stadtverordnetenversammlungen vorgeben.

Wie lange noch?

Am Ende des Panorama-Beitrags steht ein versöhnlicher Ausklang. "Es gibt auch schöne Momente in Hassloch", weiß der kleine Mann im Off. Das Bierfest. Blaskapelle, humtata. Brot und Spiele. Da tobt sich das ehrenamtliche Engagement des Bürgers und der Vereine aus. Von dem lebe eine Gemeinschaft, wird gesagt. Aber auch hier die bange Frage: "Wie lange noch?"
"Die Bürger fordern und andere müssen's tun", sagt der Bürgermeister ganz zum Schluss. Aber auch denen, die kein politisches Amt haben, wird ja einiges abverlangt. Das verrät ein Blick auf die Lohnabrechnungen oder die Einkommenssteuererklärung. Und dafür kann "der Bürger" verlangen, dass Recht und Gesetz beachtet, seine Steuern und Sozialabgaben im Sinne des Gemeinwohls eingesetzt, die Sozialsysteme rational und effektiv gestaltet und die notwendigen Entscheidungen mit Sachkompetenz getroffen werden. Und leider muss er feststellen, dass genau dies häufig nicht geschieht. Politische Entscheidungen orientieren sich überwiegend an den Wünschen und Interessen der Ober- und oberen Mittelschicht. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer und die dazwischen landen immer schneller bei den Armen. Und damit dies so bleibt, werden die Schwachen ständig gegen die Schwächsten ausgespielt. Und wenn die Politik klug wäre, was sie aber nicht ist, hätte sie längst bemerkt, dass das "Weiter so" in den alten Strukturen keine Option ist. Und deshalb wächst der Druck im Kessel so lange, bis es zur Explosion kommt.

2007 vernichtete ein vermutlicher Vorbote der Klima-Katastrophe, die selbst auch eine Folge politischer Versäumnisse ist, der Orkan Kyrill, einen Großteil der Fichtenbestände, hinter die die Politik den Bürger immer wieder zu führen versucht. Im selben Jahr, nur 24 Monate nach der Rezession von 2005, begann eine ebenfalls durch falsche Politik (Deregulierung) verursachte globale Finanz- und Wirtschaftskrise, deren weltweite Folgen auch heute noch nicht kompensiert sind. Die vom Windwurf niedergestreckten Nadelbäume wurden überwiegend mit Laubgehölzen nachhaltig aufgeforstet. Im naturnahen Mischwald kann nun niemand mehr hinter die Fichte geführt werden. Sinn dieser schrägen Metapher: Der Bürger lässt sich nicht länger die alten Märchen erzählen. Hänsel und Gretel verirren sich nicht mehr ins Hexenhaus und das Rotkäppchen zeigt dem bösen Wolf den Stinkefinger. Die selbstgenügsamen Lebensweisheiten eines Christian Fürchtegott Gellert sind aus der Mode gekommen. Der Wutbürger macht seiner Enttäuschung über das Versagen der wirtschaftlichen und politischen Eliten lautstark Luft. Der Kasseler Soziologe Heinz Bude schreibt:
"Die Affekte der Rebellion sind Wut und Zorn, die sich gegen diejenigen richten, die in den 'frivolen Jahren' des Neoliberalismus unermesslich reich und unglaublich verlogen geworden sind."
Wahlergebnisse werden zunehmend unberechenbarer. Die Altparteien müssen um sicher geglaubte Besitzstände fürchten. Und das ist gut so.

Eine der Verfallsformen der Demokratie ist die Ochlokratie (Pöbelherrschaft). Als deren Vorhut scheint die AfD zu fungieren. Gerechtere Verhältnisse, eine bessere Ordnung, eine aufgeklärtere Gesellschaft usw. sind von diesem diffusen Haufen zwar nicht zu erwarten. Aber die Wahlerfolge der Rechtspopulisten können die Parteien der bürgerlichen Mitte von Schwarz bis Grün und die mit ihnen sympatisierenden Mainstream-Medien zu der Einsicht zwingen, dass das Schönreden der sozialen Verhältnisse in Deutschland und anderswo sowie die Affirmation dessen was ist, was aber keineswegs so bleiben muss, nicht ausreichen, um die Erosion der Demokratie aufzuhalten.

Und in einem erweist die AfD der Demokratie doch einen großen Dienst: Wie keine andere Partei mobilisiert sie diejenigen, die schon lange nicht mehr zur Wahl gegangen sind. Nichtwähler haben in manchen Bundesländern die absolute Mehrheit. Man kann sie schon hören, die TRUMPeten von Jericho.